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RICHTIG GUT LEBEN

Die Würde des Menschen ist unantastbar

Weit mehr als ein staatlich organisierter Wert

Dieser Tage feiert man in Deutschland ein besonderes Jubiläum: 75 Jahre Grundgesetz. Jenes Grundgesetz, dessen erster Artikel lautet:

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“

Und dieser Satz gilt auch als die Kernaussage der allgemein gültigen Menschenrechte.

Würde ist ein Begriff, dem Lösung innewohnt. Die Lösung all des Ungelösten, das uns individuell und kollektiv beschäftigt. Ich nehme die Gelegenheit des 75 Jahr-Jubiläums wahr, die Würde in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit zu rücken!

Der Schlüssel zur Überwindung unserer Krisen

Der Mangel an Bewusstsein und Achtsamkeit, bezogen auf unsere Würde, bildet die Ursache aller unserer individuellen und kollektiven Krisen. Und er ist verantwortlich dafür, dass wir Menschen uns über weite Strecken so wenig menschlich und mitunter so erschreckend unmenschlich gebärden. Anders ausgedrückt: Die Rückbesinnung auf unsere Würde ist ein Schlüssel, vielleicht  der  Schlüssel zur Lösung unserer Probleme, zur Überwindung unserer Krisen, zu unserer weiteren Menschwerdung.

Alles wendet sich zum Guten

Bevor ich damit begann, über Würde zu schreiben, habe ich mit mehreren Menschen darüber gesprochen. Dass es sich dabei um jenes Zauberwort handeln könnte, mittels dessen sich alles zum Guten wenden würde, fanden sie zunächst einmal befremdlich.

Beispiele für Lösungen

Es macht schon richtig Freude, in Familien zu kommen, in denen „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ in aller Einfachheit und Selbstverständlichkeit gelebt wird. Wieviel offene oder unterdrückte Konflikte ihnen erspart bleiben! Um wieviel konstruktiver und lösungsbezogener sie allfällige Konflikte austragen! Wie sehr das gegenseitige Nicht-in-Frage-Stellen ihrer Würde ihr Familienglück hebt!

So mühsam es ist, mit Menschen zusammen zu sein, die ständig um ihren Selbstwert ringen, so wohltuend ist der Kontakt mit Menschen, die sich der ihnen eigenen Würde bewusst sind! Sie brauchen sich nicht anzubiedern. Sie brauchen sich weder über andere zu erheben noch sich anderen zu unterwerfen. Sie fühlen sich nicht bei jeder Gelegenheit gekränkt. Und sie haben es nicht nötig, anderen ihre Würde nehmen, sondern finden Freude daran, sie in ihrer Würde zu stärken und ihnen offen, verständnisvoll und doch ehrlich, gerade heraus zu begegnen. Und weil sie sich auf natürliche Weise ethisch verhalten, sind sie grundsätzlich im Reinen mit sich. Es lebt sich leicht im Bewusstsein unserer Würde. Und wir machen es anderen leicht dadurch.

Die Würde des Menschen ist unantastbar, würde dieser Satz nicht nur als Artikel 1 im Grundgesetz sondern ebenso als Artikel 1 unter den Werten der politischen Kultur in unseren Demokratien stehen, wie erbaulich wäre es dann, einer Parlamentsdebatte zuzuhören! Und wie attraktiv müsste der Beruf des Politikers sein, wenn man nicht permanent damit beschäftigt wäre, Niederträchtigkeiten auszutauschen! Obschon es zur Normalität des politischen Alltags gehört, kommt es doch einer Perversion gleich, dass man in der Politik einen gewichtigen Teil der Zeit und Energie, ja selbst der Kreativität und der strategischen Arbeit darauf verwendet, sich gegenseitig zu schaden, zu erniedrigen und jeglichen Wert abzusprechen und damit Spaltung nicht nur unter die politischen Parteien sondern auch unter’s Volk zu bringen. Wären sich die politischen Repräsentanten ihrer Würde bewusst, würden sie bemerken, dass sie, wann immer sie jemand anderem die Würde nehmen, sie sich zugleich selbst entwürdigen und ihre ganze Berufskaste hinzu. Und nicht zuletzt auch die ganze Nation.

Erkenne den Mitarbeitern ihre Würde zu, und du hast sie als deine Partner“, mit diesen Worten erläuterte mir eine Unternehmerin ihre Leadership-Philosophie. Tatsächlich ist es ihr, ausgehend von diesem Leitsatz, gelungen, ihr traditionell hierarchisch strukturiertes Familienunternehmen in einen extrem zukunftsorientierten Betrieb mit einer Netzwerkorganisation und hoher Eigenverantwortung der MitarbeiterInnen zu transformieren. Das Ergebnis: Das Unternehmen, dessen Zukunft in der herkömmlichen Form gefährdet schien, floriert. Und es ist höchst attraktiv geworden für neue, bestens qualifizierte MitarbeiterInnen.


„Erkenne deinen Mitarbeiter*innen ihre Würde zu, und du hast sie als deine Partner.“

Menschenwürde geht uns alle an

Das deutsche Grundgesetz weist die Verantwortung für die Achtung und den Schutz der Menschenwürde dem Staat zu. Aber geht Menschenwürde wirklich nur den Staat etwas an? Was geschieht, wenn wir, das sogenannte Volk, eine Partei wählen, die die Menschenwürde und Menschenrechte durchaus für antastbar und teilbar halten?

Ich habe Würde, also bin ich

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ geht von der Annahme aus, dass jeder Mensch Würde habe. Der Mensch sei Wert an sich. Ihm hafte Würde an, unabhängig davon, ob er sich dessen bewusst ist, und unabhängig davon, ob er seiner Würde durch die Art seines Wirkens gerecht wird. Ich bin, also habe ich Würde. Noch besser: Ich habe Würde, also bin ich.

Niemand kann sie uns nehmen (außer wir selbst)

Immer noch kommt es einem Privileg gleich, in Ländern zu leben, wo die Menschenrechte einigermaßen Beachtung finden. Aber die Würde, die mir eigene Würde existiert jenseits der politischen Verhältnisse und äußeren Rahmenbedingungen. Nelson Mandela, beispielsweise, scheint sich seiner Würde in einer entwürdigend kleinen Gefängniszelle bewusst geworden zu sein. „Du kannst mir alles nehmen, nicht aber meine Freiheit“ (Freiheit setze ich hier weitgehend mit Würde gleich), so kam es Viktor Frankl in den Sinn, als ihn ein Aufseher im Konzentrationslager nackt vor seiner Lagerhütte antreten ließ. Niemand kann uns unsere Würde nehmen, außer wir selbst, indem wir sie verleugnen.

Würde, ein Potenzial, das unmittelbar mit unserem Menschsein verbunden ist. In welcher Form zeigt sich dieses Potenzial? Und wie kommt dieses Potenzial in die Wirkung? Und was verdient das Etikett „würdelos“?

Unsere Würde ruft uns auf … 

Unsere Würde ruft uns auf, die Würde unserer Mitmenschen anzuerkennen und uns ihnen gegenüber respektvoll zu verhalten. Unsere Würde ruft uns auf, andere Menschen als Menschen zu sehen, egal ob sie der eigenen Familie, der eigenen Gesinnungsgemeinschaft, der eigenen Volksgemeinschaft, der eigenen Religion, der eigenen Rasse angehören oder eben einer anderen. Schließlich ruft uns unsere Würde auf, miteinander zu kooperieren, zu unserem gemeinsamen Glück zusammenzuwirken.


„Dass die Würde des Menschen unantastbar sei, ist nicht genug. Sie gehört durch alles, was wir tun, gestärkt.“

Wertschätzung und auf Augenhöhe

Unterschiedliche Menschen haben unterschiedliche Fähigkeiten, unterschiedliche Eigenschaften, unterschiedliche Wirkungsgrade. Daraus ergeben sich auch unterschiedliche Rollen und Verantwortungsbereiche. Was sich daraus aber nicht ableitet, sind unterschiedliche Wertungen und das Recht zur Unterdrückung. Im Bewusstsein unserer Würde begegnen wir anderen weder unterdrückerisch noch unterwürfig sondern wertschätzend und auf Augenhöhe.

Würde ist

Die Würde beginne dort, wo die Prahlerei endet, lautet ein Sprichwort. Und nicht nur die Prahlerei. Unsere Würde tritt dort ans Tageslicht, wo wir aufhören, als etwas Bestimmtes erscheinen zu wollen, als hübsch, stark, rechtschaffen, rücksichtsvoll, tatkräftig, hilfsbedürftig, gefährlich… Im Sein liegt die Würde, niemals im Schein.

Die Identifikation mit der Opferrolle ist würdelos

Viele Menschen oder Gruppen von Menschen gefallen sich darin, sich als Opfer darzustellen. Es kann ja passieren, dass wir Opfer einer Situation werden oder Opfer der Blindheit, Rücksichtslosigkeit, Gemeinheit, Aggression anderer Menschen. In die Rolle des Opfers zu geraten und uns mit der Rolle des Opfers zu identifizieren, sind zwei unterschiedliche Paar Stiefel. „Du Opfer!“, wird nicht umsonst von jungen Menschen als Schimpfwort gebraucht, weil es einer Verleugnung dessen gleichkommt, was wir im Grunde unseres Wesens sind – autonom, selbstverantwortlich, würdevoll eben. Eine Macht bleibt uns selbst in Situationen vollständiger Ohnmacht erhalten: Die Macht, uns unserer Würde zu besinnen. „Du kannst mir alles nehmen, nicht aber meine Würde.“

Die Identifikation mit der Rolle des Opfers ist in gleichem Maße würdelos, wie es die Rolle des Täters ist. Beide Rollen dienen als Waffe mit dem Ziel, sich des jeweils anderen zu bemächtigen. Viele Menschen und Menschengruppen, auch Völker und Religionsgemeinschaften, stilisieren sich als Opfer, weil sie meinen, das gäbe ihnen das Recht, andere ins Unrecht zu setzen und ihnen Unrecht zuzufügen. Wo bleibt da ihre Würde?

Würde mit Fehlern und Grenzen

Wir alle irren, wir alle machen Fehler, wir alle gehen mitunter als Verlierer vom Platz. Kein Grund, uns zu rechtfertigen. Irren ist menschlich. Weder verlieren wir unsere Würde, wenn wir fehlgegangen sind, noch erhalten wir sie aufrecht, wenn wir uns rechtfertigen. Ganz im Gegenteil: Wir verlieren unsere Würde durch unsere Rechtfertigungen und gewinnen sie, wenn wir für unsere Fehler geradestehen und sie nach Möglichkeit wieder gut machen.

Auch andere irren, machen Fehler, gehen als Verlierer vom Platz. Wie würdelos ist das denn, dies als Anlass zu nehmen, sie zu verurteilen und uns über sie zu erheben! Haben wir nicht genug zu tun, unsere eigenen Fehler und Schwächen zu erkennen und damit konstruktiv umzugehen? 


Die Um-zu-Krankheit

Es verlangt uns unwillkürlich Respekt ab, wenn jemand eine schwere Krankheit würdevoll erträgt! Allerdings gibt es da eine Krankheit, die uns zutiefst verächtlich macht: Die Um-zu-Krankheit – ich bin freundlich, um gemocht zu werden, ich bin fleißig, um befördert zu werden, ich arbeite, um einen Lohn zu erhalten…, anstatt freundlich zu sein, weil ich freundlich bin, fleißig zu sein aus innerem Engagement für eine Sache, zu arbeiten als Beitrag für das Wohl des größeren Ganzen einer Organisation, unserer Gesellschaft, der Menschheit.

Die Tendenz, alles zu kommerzialisieren, alles mit Geld aufzuwiegen, nimmt unseren Tätigkeiten die Würde. Freilich braucht es immer einen Ausgleich zwischen Geben und Nehmen. Aber wenn das Nehmen zum vorrangigen Motiv des Gebens wird, dann ist das krank und es macht uns krank.

Selbstbeschränkung als Ausdruck von Würde

Ein Aspekt der Selbstverantwortung besteht in der Selbstbeschränkung. Muss ich alles haben, das mir möglich ist zu haben? Muss ich alles wissen, das mir möglich ist zu wissen? Muss ich alles tun, das mir möglich und erlaubt ist zu tun? In der Selbstbeschränkung, in der frei gewählten Bescheidenheit, im Maßhalten zeigt sich unsere Würde. Die Gier nach mehr, der hemmungslose Expansionsdrang, das Ignorieren natürlicher Grenzen ist zerstörerisch – nicht nur für die Natur sondern auch für unsere Gesundheit, für unsere Beziehungen, für unsere Zukunft. Wenn es uns an Selbstbeschränkung fehlt, beschränkt uns zumeist das Leben.


„Würde ruft uns dazu auf, miteinander zu kooperieren und zu unserem gemeinsamen Glück zusammenzuwirken.“

Würde in helfenden Beziehungen

Es liegt in der Natur des Menschen, dass wir einander helfen. Wir sind geradezu angewiesen darauf. Es macht jedoch einen Unterschied, ob wir den Mitmenschen zu einem Objekt unseres Helfens degradieren, ihn in Abhängigkeit bringen, aus einer Haltung des Mächtigen einem Ohnmächtigen gegenüber agieren, oder ob wir ihm als diesem einzigartigen, unvergleichlichen Wesen begegnen, das er ist, in Achtung seiner Würde und Selbstbestimmtheit. Freilich gibt es Emergency-Situationen, in welchen ein pragmatisches, rein sachbezogenes Einschreiten notwendig ist. In der Kindererziehung aber, in der Begleitung alter oder kranker Menschen, in der Seelsorge, in der Psychotherapie, überall dort, wo es eine anhaltende Beziehung zwischen Helfenden und Hilfesuchenden gibt, ist es unerlässlich, dass die eigene Würde und die des anderen die Mitte einer solchen Beziehung bilden.

Würde und Selbstbewusstsein

Würde ist eine Frage des Selbstbewusstseins. In dem Maße, in welchem wir uns unserer selbst bewusst sind, manifestieren wir auch unsere Würde. Wenn ich mich meiner Würde entsinne, entsinne ich mich meiner selbst. Auch wenn ich mich deiner Würde entsinne, entsinne ich mich meiner selbst. Wenn ich mich aber selbst vergesse, gleite ich ab in die Würdelosigkeit. Insofern handeln wir im Sinne unserer Würde, wenn wir uns von Situationen fernhalten, welche die Selbstvergessenheit fördern, in denen wir uns in einer dumpfen Masse als ein selbstverantwortetes Ich auflösen, in denen wir, sei es durch unreflektierte Zugehörigkeit und Loyalität, sei es durch Süchte und Zwänge aller Art, uns selbst verlustig gehen.

Würde in Gemeinschaften

Würde ist also weit mehr als ein staatlich zu organisierender Wert. Wir alle sind herausgefordert, der unserem Sein inhärenten Würde zu entsprechen. Diese Herausforderung bezieht sich aber nicht nur auf uns als Individuen, sondern ebenso auf jede Form menschlicher Gemeinschaften, auf Familien, Unternehmen, politische Parteien, Nationen, letztlich auf uns als gesamte Menschheit. 

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, diese Einladung ergeht letztlich an uns als ganze Menschheit. Dessen eingedenk, hören wir auf, uns selbst und anderen und der Natur Probleme zu bereiten. Unsere Würde gibt uns vor, einander Partner zu sein, aufeinander zu achten, in unserer Unterschiedlichkeit zusammenzufinden und, uns gegenseitig ergänzend, zusammenzuwirken.

Unser höchstes Gut

Unsere Würde ist ein allerhöchstes Gut, das wir zu verantworten haben, unsere eigene und unsere gemeinsame. Es ist uns Menschen bestimmt, unsere Würde zu leben. Das ist kein willkürlich in die Welt gesetztes Dogma sondern eine lebendige Erfahrung. Ist es doch offensichtlich, dass wir in dem Maße erblühen, in welchem wir unsere Würde verwirklichen, und in dem Maße verkommen und verfallen, in welchem wir sie verlieren. Erst indem wir uns, nach unseren Möglichkeiten, auf unsere Würde einlassen und uns ihrer innewerden, verdienen wir die Auszeichnung, Mensch zu sein.

 


„Wir erblühen in dem Maße, in welchem wir unsere Würde verwirklichen, und wir verfallen in dem Maße, in welchem wir sie verlieren.“

 

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Über den Autor

Wolfgang Stabentheiner zählt zu Europas Coachingpionieren der ersten Stunde. 1990 gründete er FUTURE und entwickelte das erste ICF-zertifizierte Coachingprogramm im deutschen Sprachraum. Er wirkt international als Coach, Autor, Seminarleiter und Vortragender.
Mehrfach rankte man ihn unter die Top 100 der inspirierendsten Menschen im deutschen Sprachgebiet.

Im Laufe der letzten 30 Jahre haben sich ihm an die 2000 Führungskräfte in Seminaren, Coachings und Beratungen anvertraut. Er hat hunderte von Coaches aus vielen Ländern Europas ausgebildet und ungezählte Unternehmen in wichtigen transformatorischen Prozessen begleitet. Seit 2019 widmet er sich ganz dem Thema
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